Am Abgrund

Day 1,294, 05:19 Published in Germany Germany by Herr Mux

Das nahe Grollen der Artillerie reißt mich brutal aus einem unruhigen Schlaf. Ich setze meinen Stahlhelm auf und spähe vorsichtig über den Rand des Schützengrabens, der in den letzten Wochen zu meiner zweiten Heimat geworden ist und mir allenfalls trügerischen Schutz vor den zahllosen Feinden meines Heimatlandes verspricht.

Dort, hinter dem mit Granattrichtern übersäten Niemandsland sehe ich die Banner der Ungarn stolz im Wind flattern. Der Sieg scheint ihnen sicher. Hinter mir, irgendwo im ausgebombten Württemberg, liegt das schwarz-rot-goldene Banner zerrissen im Dreck. Achtlos fallengelassen von denjenigen, die einst versprachen, es auch in den finstersten Zeiten hoch zu halten.

Ich erblicke mein Spiegelbild. Das trübe Wasser der Pfütze, das im unbarmherzigen Takt der Einschläge erbebt, zeigt mir nicht viel mehr als eine geisterhafte Schablone meiner Selbst. Die einst blitzenden blauen Augen verlieren sich unter dem Schatten des verbeulten Helms.

Bin ich allein? Bin ich bereits tot? Was sind meine Befehle? Ich weiß es nicht. Das Funkgerät, das immer noch auf den Rücken meines niedergeschossenen Kameraden geschnallt ist, sendet bereits seit Tagen nicht mehr. Man hat uns vergessen...

Was bleibt mir anderes, als auszuhalten? Ich höre wie die blankpolierten Panzer des Feines heranrumpeln, pflanze das Bajonett auf meinen geschundenen Karabiner und bringe einen leisen Fluch über die Lippen, der ein Gebet hätte werden sollen.

Egal. Immer wieder werden eDeutsche wie ich in genau diesen Abgrund blicken. Das ist das unumstößliche Schicksal unserer Nation. Ich wünschte nur ich hätte nicht das Gefühl, ihn ganz alleine anzustarren.

Mux